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1. August-Rede von Thierry Carrel
Die diesjährige Festrede an der 1. August-Feier der Stadt Zug auf dem Landsgemeindeplatz hielt Thierry Carrel. Der Herzchirurg ist gegenwärtig am Universitätsspital Zürich tätig. Er war über 20 Jahre Direktor der Universitätsklinik für Herz- und Gefässchirurgie am Inselspital in Bern. Er nahm über 12 000 Herzeingriffe vor und schrieb 800 wissenschaftliche Publikationen. Ab 1. November 2022 wird Thierry Carrel Gemeinderat in Vitznau. Nachfolgend seine Rede zum Nachlesen.
Liebe Zugerinnen und Zuger, geschätzte Vertreter der Stadt und des Kantons Zug, Liebe Gäste
Ich danke Ihnen herzlich für die Einladung und den freundlichen Empfang auf dem Landsgemeindeplatz und freue mich sehr, dass ich heute Nachmittag mit Ihnen einige gemütliche Augenblicke geniessen darf, friedlich und fröhlich, aber auch etwas besinnlich. So wie es sich an einer Geburtstagsfeier gehört. Ich kann Sie vorab beruhigen: Ich werde weder ein medizinisches Referat halten noch Werbespots für die Luzerner Riviera machen. Erlauben Sie mir einige spontane Gedanken zum 1. August mit Ihnen zu teilen!
Ich fühle mich bei Ihnen in der Zentralschweiz zu Hause, und dies trotz meinem Namen der eindeutig nach Romandie klingt. Meine Vorfahren lebten zwar in Genf, meine Grossmutter war aber eine Camenzind aus Gersau, meine Frau ist in Altdorf aufgewachsen, und seitdem ich in Vitznau wohnhaft bin, fahre ich hin und wieder mit dem Rennvelo, mit dem Auto oder am schnellsten mit der Bahn durch ihren Kanton zur Arbeit am Zürcher Universitätsspital. Und: Seit letztem Jahr sitze ich als Vertreter der Universitäten in der Matura-Kommission des Kantons Zug. Und wie es fast so sein muss: An jedem Ort, den ich besuche, treffe ich Verwandte, Studienkollegen, Kameraden aus meiner Zeit in der Schweizer Armee, oder andere Bekannte, wenn nicht ehemalige Patientinnen und Patienten, so auch heute in Zug. Diese Begegnungen sind für mich etwas sehr Kostbares, etwas vom Schönsten, was ich in unserer kleinen Schweiz erleben darf.
Im Vorfeld dieser kurzen Ansprache zum Nationalfeiertag habe ich intensiv darüber nachgedacht, wie optimistisch man im Jahr 2022 eigentlich noch sein darf? Persönlich versuche ich stets, das Positive zu sehen und an das Gute zu glauben. Die Frage ist einzig: Ist dies nach zwei schwierigen Jahren und bei der gegenwärtig ungemütlichen Weltlage überhaupt noch möglich? Viele unter uns sind verunsichert: Die Zukunft unseres Planeten wird erneut düster gemalt, nicht zuletzt, weil es an verschiedenen Orten brennt. Es geht unter anderem um einen Krieg, der nicht so weit weg von unseren Grenzen tobt und sehr viel Leid verursacht, um einen Krieg, dessen Ende nicht absehbar ist, weil die Diplomatie dem offensichtlich machtlos gegenübersteht. Grosse Sorgen bereiten uns auch die Hitze und die anhaltende Trockenheit, wie auch die Unsicherheit, wie es diesen Winter mit dem Heizen aussehen wird. Natürlich gibt es Leute, die uns erinnern, dass es im Jahr 1540 und im Jahr 1921 auch schon so heiss gewesen ist. Aber wenn wir ehrlich sind: Die Zeichen werden immer eindringlicher, dass wir zur Natur schon heute und nicht morgen grosse Sorge tragen müssen, und ein paar zusätzliche Herausforderungen kommen ganz bestimmt auf uns zu.
Schon nur deshalb müssen wir, heute noch mehr als gestern, zusammenhalten. Gemeinsam uns für nachhaltige Lösungen einsetzen, für uns und besonders für die nachkommenden Generationen. Wir müssen auch dringend einsehen, dass es ein riesengrosses Glück bedeutet, den Wasserhahn aufzudrehen und es kommt frisches Wasser. Und wenn wir einen See in der Nähe haben, was für ein Geschenk. Wenn man dies nüchtern betrachtet, kann man ja kaum noch unglücklich oder griesgrämig sein, oder? Und dennoch müssen wir uns zukünftig sicher vermehrt mit einem Szenario beschäftigen, das wir indessen nie mit unserer Lebenswelt in Verbindung gebracht hätten: Ich rede hier von Mangellage.
Werden uns das Gas und der Strom bald ausgehen? Werden wir das erleben, was in anderen Ländern keine aussergewöhnliche Seltenheit darstellt, sondern fast schon zur Tagesordnung gehört: Das Licht fällt aus, das warme Wasser wird abgestellt.
Aber nun zurück zu Erfreulicherem: Wir feiern heute unsere Heimat, das Fest wollen wir richtig geniessen und auch daran glauben, dass wir die Schönheit unserer Natur mit Seen, Bergen und wunderbaren Landschaften weiterhin bewahren können. In eine solche Heimat hinein geboren zu werden, mag Zufall sein oder Fügung; aber ganz bestimmt nicht unser Verdienst. Und vor allem, wir hätten es bedeutend schlechter treffen können. Also liebe Zugerinnen und Zuger: Die Freude über die eigene Heimat soll uns jeden Tag begleiten, aber uns nicht überheblich werden lassen. Dies gilt besonders, wenn wir das Privileg haben, in einer derart schönen Region wie dem Zugerland oder der Zentralschweiz zu Hause zu sein. Darum sind wir unter anderem auch verpflichtet, unsere Arme für andere offen zu halten: Das gehört zu den guten, wenn nicht hervorragenden Schweizer Traditionen. Viele Menschen unter uns haben ganz selbstverständlich Verwandte aus anderen Ländern, und ohne ausländische Arbeitskräfte würde die Schweiz, wie sie sich heute präsentiert, nicht so bestehen. Wir hätten keinen Gotthardtunnel und keine Staudämme, und bestimmt weniger Autobahnstrecken. Ohne ausländische Fachkräfte würden unsere Spitäler kaum noch funktionieren und unsere Gastronomie hätte nicht die Ausstrahlung die sie kennzeichnet. Und da gibt es plötzlich herausfordernde Vorgaben aus Bern: Jeder Kanton muss sehr rasch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Dass wir Geflüchteten eine Heimat auf Zeit anbieten, gehört zu unserer Offenheit und Tradition. In dieser Hinsicht gratuliere ich der Kantonsregierung für ihre schnelle und bravouröse Entscheidung, am Standort des alten Kantonspitals die entsprechende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.
Sehr verehrte Damen und Herren, die Schweiz besteht heute aus 2148 Gemeinden; ich gehe davon aus, dass in der grossen Mehrheit dieser Gemeinden heute Nachmittag oder etwas später am Abend eine 1. Augustrede gehalten wird. Ich könnte mit Ihnen wetten: In vielen Ansprachen geht es um höhere Gedanken, um moralische Werte, um das, was man sollte und um das, was man müsste. Um Freiheit, Menschlichkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Offenheit und schliesslich eben um Demokratie. Ich bin auch ziemlich sicher, dass manche Redner gerne Wasser predigen, aber anschliessend gerne einen Schluck Weisswein trinken werden. Das Publikum nickt und klatscht, meistens verständnisvoll. Aber jeder denkt heimlich: Ein besserer Mensch werde ich lieber morgen als heute. Wir wissen ja meistens sehr gut, was die anderen anders oder besser machen sollten. Wir lesen in den Tageszeitungen häufig, was alles falsch gesagt oder schlecht getan wurde. Da könnten wir uns noch etwas verbessern – wir könnten uns auch ab und zu loben, für alles, was in unserem Land gut funktioniert. Dass früh am Morgen der Bus pünktlich ankommt, oder dass frisches Brot bereits im Laden verfügbar ist. Dass ein Sanitär schnell die defekte Dusche repariert und der Schreiner die kaputten Fensterläden ausbessert. Dass vieles so rund läuft, ist bei allen Unwägbarkeiten nicht immer selbstverständlich. Oder, dass wir jetzt alle miteinander auf diesem wunderschönen Platz feiern dürfen, weil fleissige Mitmenschen, darunter Freiwillige, all die Bänke und Blumen vorbereitet haben, und auch noch für Essen, Trinken und Musik gesorgt haben. All das ist überhaupt nicht selbstverständlich. Dafür müssen wir dankbar sein und dürfen auch ruhig mal ein Kompliment aussprechen. Ja, beim Kompliment machen, da haben wir manchmal etwas Hemmungen. Also liebe Organisatorinnen und Organisatoren dieser Feier: ein herzliches Dankeschön und einen grossen Applaus für Ihre Arbeit am heutigen Feiertag!
Ich komme nochmals zu all den Reden zurück, die heute Abend in den Schweizer Gemeinden gehalten werden. Diese werden leider wie 1. Augustraketen in der Luft verpuffen. Die schönen und wichtigen Worte werden schnell vergessen sein. Vielleicht sollten wir all diese Reden aufeinander stapeln: Und wenn wir die Minuten dieser Reden in Meter umwandeln würden, dann würde ein Turm entstehen, ganz bestimmt deutlich höher als der Pulverturm, vielleicht sogar höher als der Prime Tower in Zürich. Diesen Turm mit den vielen wichtigen Botschaften müsste man dann aufstellen. Keine Angst, nicht in Zug, aber auch nicht in Basel, Zürich oder Bern. Sondern an einem typischen Knotenpunkt in der Schweiz, zum Beispiel in Rothrist, dort wo Autobahnen und Zuglinien zwischen Bern, Zürich, Basel und Luzern aufeinandertreffen. Politikerinnen und Politiker könnten ihn sehen, besonders wenn sie auf ihrer Fahrt ins Bundeshaus im Stau stecken, um wichtige Entscheidungen zu treffen oder die Manager und Berater, die nach Zürich fahren, um Arbeitsstellen erbarmungslos zu streichen. Auf diesem Turm wäre zum Beispiel das Lob der Freiheit zu lesen. 1291 standen tapfere Männer auf der Rütliwiese, am Ufer des wilden Urnersees. Heute stehen wieder einmal starke Männer auf der Wiese, die Bösen, wie man unsere Schwinger nennt und feiern zum Thema «der friedvolle Kampf». Auch unsere Vorfahren kämpften für die Freiheit unseres Landes. Um das Bündnis zu besiegeln, schworen die drei Vertreter der Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden den Rütlischwur, den jeder Schweizer Bürger mindestens im Grundsatz kennen sollte. Leider geht es uns hier nicht viel anders als beim Schweizer Psalm – seine vier Strophen kennen wir nicht so perfekt wie «Ewigi Liebi», «Ich schenke dir mis Härz» oder vielleicht «das Chommer Lied». Übrigens am Ende dieses Zuger Liedes ruft der Meier von Cham seine Mitbürger auf, weiterhin fleissig zu arbeiten, um sich so den Segen des Himmels auch in Zukunft zu sichern: auch in der heutigen Zeit eine «clevere» Aufforderung.
Zurück zum Turm von Rothrist, auf dem die Botschaften der Erstaugustredner stehen würden. Dann wäre auf diesem Turm ein Lob der Demokratie zu lesen. Auch wenn manche Kritiker wohl zu recht sagen, wir Schweizer seien mit angezogener Handbremse unterwegs, immer leicht unter der möglichen Höchstgeschwindigkeit, so wissen doch gerade WIR Schweizer und viele von uns als Bergler ganz genau, dass man nur Schritt für Schritt den Gipfel erreicht. Von meiner Rede möchte ich, dass das Wort Zuversicht übrigbleibt und ganz gross im obersten Stock des Turms in Rothrist geschrieben wird, dass man es von weit herum leuchten sehen würde.
Geschätzte Damen und Herren, nun neigen sich die ersten 1. Augustreden wohl langsam dem Ende zu. Die langweiligeren dauern noch etwas an. Das Publikum atmet auf, spendet höflich Applaus, Bratwurstduft liegt in der Luft, man singt die Landeshymne, und bald ist schon der zweite August. Und weil in Rothrist noch lange kein Turm stehen wird, an dem die Ideen, Wünsche und Visionen zu lesen sind, werden die Erstaugustreden bald wieder vergessen sein. Auch meine Rede dürfen Sie getrost vergessen. Aber tun Sie mir bitte einen Gefallen: Wenn Sie jemand fragt, wie es Ihnen geht – antworten Sie doch ab und zu «Danke, es geht mir ausgezeichnet!», auch wenn Sie gewiss einen Grund zu klagen hätten. Denken Sie an die Menschen in Irland, die jeweils sagen «It could be worse», es chönnt immer noch a chli schlimmer sii! Albert Schweitzer, der Urwalddoktor aus Lambaréné, ein Vorbild für uns Mediziner, hat seinerzeit gesagt: «Wer zum Glück der Welt beitragen möchte, der sorge zunächst einmal für eine glückliche Atmosphäre im eigenen Haus.»
In diesem Sinne gratuliere ich Ihnen für die wunderbare Stimmung heute hier auf dem Landsgemeindeplatz und wünsche Ihnen allen noch ein schönes Fest, für die Zukunft viel Zuversicht und für die Stadt Zug, den Kanton, unser Land und die Welt, alles Gute.
A ta santé chère Suisse, tanti Auguri cara Svizzera, auf rätoromanisch kriege ich es nicht lupenrein hin, aber dafür um so lauter: Prosit liebe Schweiz!